Call for Papers

Krisen als Impulse für die Germanistik?
Überlegungen, Untersuchungen, Reflexionen

International Konferenz an der Seoul National University (Südkorea) in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik (GiG)

Datum: 28.–30. Juni 2024
Ort: Seoul National University (Gwanak-Campus), Seoul, Südkorea

Krisen als Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung haben in der germanistischen Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft eine lange Tradition: Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch (1668) thematisiert den Dreißigjährigen Krieg, Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1794-5) die Französische Revolution, und während seiner sogenannten Kant-Krise (1800-01) überkamen Heinrich von Kleist fundamentale Zweifel an der Verlässlichkeit empirischen Wissens. Die Sprachkrise um 1900 findet ihren Niederschlag in Hoffmannsthals Brief an Lord Chandos (1902), Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung (1944) thematisiert die Krise des rationalen Denkens, die Lyrik Paul Celans den Zivilisationsbruch des Holocaust, Günter Grass’ Roman Die Rättin (1986) die atomare Bedrohung … die Zahl der Beispiele ließe sich nahezu beliebig vermehren.
Historisch-etymologisch betrachtet bezeichnet das Wort Krise (von griech. krísis: Streit, Urteil, Entscheidung, Wendepunkt) in der antiken Medizin „die finale Phase des Krankheitsprozesses mit der Wendung zu Gesundung oder Sterben“ (Steg 2020, 425). Auf so unterschiedliche Bereiche wie Politik, Rechtswissenschaft, Soziologie und Theologie übertragen, impliziert der Begriff die Existenz „zugespitzte[r] Alternativen, die keine Revision mehr zul[ass]en: Erfolg oder Scheitern, Recht oder Unrecht, Leben oder Tod, schließlich Heil oder Verdammnis“ (Koselleck 2006: 204). Bereits im Jahr 1982 erklärt Reinhart Koselleck das Konzept der Krise zur „strukturellen Signatur der Neuzeit“ (627), während der Philosoph Paul Ricœur gar von einer „permanente[n] Struktur der conditio humana“ (1986: 53) spricht.
Die Geschichte scheint Ricœur Recht zu geben, denn im Jahr 2023 ist die Krise zum Dauerzustand geworden: Klimakrise, Flüchtlingskrise und Finanzkrise beeinflussen und verschärfen einander; Populisten stellen die Demokratie und Verschwörungstheoretiker Grundannahmen der Weltwahrnehmung in Frage. Die Corona-Pandemie hat nicht nur das Vertrauen in die Stabilität des gesellschaftlichen Zusammenlebens erschüttert, sondern auch zu tiefer persönlicher Verunsicherung geführt: Das Gefühl, in einem dauerhaften und allgegenwärtigen Krisenzustand zu leben, bildet für viele Menschen eine immer größere seelische Belastung, die selbst krisenhafte Züge annimmt.
Diese fundamentale Krisenhaftigkeit der menschlichen Existenz wird zum Gegenstand der Germanistik, sofern ihre konkreten Ausprägungen eben auch in deutschsprachigen Äußerungen, Werken der deutschen Literatur oder Diskursen zum Ausdruck kommen, die die deutsche Kultur und Gesellschaft betreffen. Zugleich aber liegt es in der Natur globaler Krisen, dass ihre Wirkungszusammenhänge und Implikationen weit über den begrenzten Bereich einer Nationalsprache, ihrer Literatur und Kultur hinausweisen. Sie werden damit zu einer Herausforderung für das Selbstverständnis eines Faches: Während die Studierendenzahlen in den Internationalen Germanistiken trotz regionaler Unterschiede tendenziell eher rückläufig sind, wird in Deutschland einerseits über Sinn und Nutzen des Germanistikstudiums diskutiert (vgl. Doerry 2017; Drügh et al. 2017), andererseits aber stößt die Interkulturelle Germanistik insbesondere bei internationalen Studierenden auch weiterhin auf Interesse.
Der Diskurs von einer „Krise der Germanistik“ (Krüger 1969, 225) ist nicht neu, und gerade darin zeigt sich eine strukturelle Parallele zum Krisen-Phänomen im Allgemeinen: Krisen hat es immer gegeben – doch scheint die Lage im Jahr 2023 krisenhafter denn je. Zugleich aber weist diese Parallelität einen möglichen Weg aus der Krise: Wenn die Germanistik als Fach relevant bleiben will, muss sie sich in allen ihren Teildisziplinen der globalen Probleme und Herausforderungen annehmen, die in Krisen ihren Ausdruck finden, kurz: die Krise(n) zum Thema machen! Nur eine Germanistik, die sich als interkulturelle Disziplin mit internationaler und interdisziplinärer Ausrichtung versteht, ist in der Lage, komplexe transnationale Zusammenhänge in den Blick zu nehmen, die richtigen Fragen zu stellen und zu fruchtbaren Einsichten zu gelangen.

Erbeten werden Beiträge aus den germanistischen Teildisziplinen der Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft, Deutsch als Fremdsprache/Deutsch als Zweitsprache sowie komparative und interdisziplinäre Ansätze mit germanistischer Komponente. Sie können sich auf einen der folgenden Themenbereiche beziehen oder sich in eigenständiger Weise mit dem Konferenzthema auseinandersetzen:

  1. Historische oder zeitgenössische Krisen, ihre Manifestationen in sprachlichen Äußerungen, literarischen Werken, kulturellen Artefakten oder diskursiven Konstellationen, sowohl im Bereich der Germanistik im engeren Sinne als auch in interkultureller und interdisziplinärer Perspektive.
  2. Der Begriff der Krise als theoretisches Konzept, seine synchronen und diachronen Variationen in verschiedenen Anwendungsbereichen sowie ihre jeweiligen methodologischen Implikationen.
  3. Die Krise(n) des Faches Germanistik und seiner Teildisziplinen in den verschiedenen Regionen der Welt, ihre Ursachen, Symptome und mögliche Lösungsansätze unter besonderer Berücksichtigung neuerer Ansätze in Forschung und Lehre.

Vorträge werden jeweils 20 Minuten umfassen, gefolgt von einer 10-minütigen Diskussion; die Konferenzsprache ist deutsch. Bitte senden Sie ein Exposé von maximal 300 Wörtern sowie einen knappen Lebenslauf bis zum 15. Januar 2024 an Jin-Ho HONG (ojinho70@snu.ac.kr) und Christian BAIER (cbaier@snu.ac.kr). Über die Annahme der Beitragsvorschläge wird bis 31. Januar 2024 entschieden.
Die Publikation ausgewählter Beiträge ist vorgesehen.

Die gestaffelte Tagungsgebühr beträgt 70 € für reguläre Teilnehmerinnen, 50 € für GiG-Mitglieder und 20 € für Doktorandinnen oder Wissenschaftler*innen ohne Festvertrag (Lehrbeauftragte, adjuncts o. ä.). Enthalten in diesem Betrag sind die gemeinsamen Mittagessen sowie die Kosten für Ausflüge und Abendveranstaltungen.
Reise- und Übernachtungskosten können von den Veranstaltern leider nicht übernommen werden. Wir bitten Sie daher, sich rechtzeitig selbst um eine Finanzierung zu bemühen. Referentinnen und Referenten, die an einer deutschen Universität unterrichten, können sich beim DAAD um eine Unterstützung bewerben. Die GiG wird einen Antrag für Mitglieder aus DAC-Ländern beim DAAD stellen.

Ausgewählte Literatur:
Doerry, Martin. „Schiller war Komponist“. Der Spiegel, Bd. 6/2017, 4. Februar 2017, S. 104–09.
Drügh, Heinz, u. a. „Wir Todgeweihten grüßen euch! Antwort von Heinz Drügh, Susanne Komfort-Hein und Albrecht Koschorke“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Februar 2017. www.faz.net, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/krise-der-germanistik-antwort-von-heinz-druegh-susanne-komfort-hein-und-albrecht-koschorke-14868192.html.
Grunwald, Henning und Manfred Pfister. „Krisis! Krisenszenarien, Diagnosen und Diskursstrategien“. In Krisis! Krisenszenarien, Diagnosen und Diskursstrategien, hg. v. Henning Grunwald und Manfred Pfister, München: Fink, 2007, S. 7–20.
Habermas, Jürgen. „Was heißt heute Krise? Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“. In Jürgen Habermas (Hg.) Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976, S. 304–28.
Koselleck, Reinhart. „Krise“. In Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. v. Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Bd. 3: H-Me, Stuttgart: Klett-Cotta 2004, S. 617–50.
Koselleck, Reinhart. Begriffsgeschichten: Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. 5. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2021.
Nünning, Ansgar. „Krise als Erzählung und Metapher. Literaturwissenschaftliche Bausteine für eine Metaphorologie und Narratologie von Krisen“. In Krisengeschichte(n): „Krise“ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive, hg. v. Carla Meyer, Katja Patzel-Mattern und Gerrit J. Schenk, Stuttgart: Steiner 2013, S. 117–44.
Ricœur, Paul. „Ist ‚die Krise‘ ein spezifisch modernes Phänomen?“ In Über die Krise. Castelgandolfo-Gespräche 1985, hg. v. Krzysztof Michalsky, Stuttgart: Klett-Cotta 1986, S. 38–63.
Schulze, Gerhard. Krisen. Das Alarmdilemma. Frankfurt am Main: S. Fischer 2011.
Song, Hi-Young. „Die Krise der koreanischen Germanistik — auch eine Krise der deutschen Sprachpolitik in Korea?“ Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 33, Nr. 1 (1. März 2003): 116–22. https://doi.org/10.1007/BF03379342.
Steg, Joris. „Normale Anomalie. Die Coronakrise als Zäsur und Chance.“ Blätter für deutsche und internationale Politik 65, Heft 6 (2020), S. 71-79.
Steg, Joris. „Was heißt eigentlich Krise?“ Soziologie 49, Nr. 4 (2020): 423–35.